Sexualtherapeutische Beckenbodenphysiotherapie – wenn Körperwissen auf Selbstwahrnehmung trifft
- Laura Wendrich
- 13. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 6 Tagen

Interview mit Patricia Liebeskind:
In der sexualtherapeutischen Beckenbodenphysiotherapie verbindet sich medizinisches Fachwissen mit achtsamer Sexualberatung. Physiotherapeutin und klinische Sexologin Patricia Liebeskind begleitet Menschen dabei, ihren Beckenraum, ihr Genital und ihre Sexualität neu zu entdecken – frei von Scham, mit Wissen, Empathie und Respekt. Ihr ganzheitlicher Ansatz hilft bei Schmerzen, Lustlosigkeit oder Funktionsstörungen und zeigt, wie eng Körper, Psyche und Sexualität miteinander verbunden sind.
1. Was hat dich dazu bewogen, dich auf sexualtherapeutische Beckenbodenphysiotherapie zu spezialisieren?
Ich blicke auf über 25 Jahre Berufserfahrung zurück – und immer häufiger zeigten sich Themen, die den unteren Rücken und den Beckenraum in den Mittelpunkt rückten. Ganzheitliche Aspekte, wie etwa die Meridianarbeit aus der TCM, die ich in meine physiotherapeutische Arbeit einfließen ließ, führten zu ergänzenden Fragen rund um Sexualität, Genital- und Unterleibsbereiche.
Oft spürte ich bei meinen Patient*innen ein großes Bedürfnis nach Aufklärung, Wissen und praktischen Hilfen. Doch weder in der Ausbildung zur staatlich geprüften Physiotherapeutin noch im Studium der Physiotherapie wurde über Sexualität, Genital- oder Sexualmedizin gesprochen.
Also machte ich mich selbst auf den Weg – und fand in der PhysioPelvica®-Fachausbildung für Beckenbodenphysiotherapie (AG GGUP) sowie den sexualtherapeutischen Konzepten Sexocorporel und Systemische Sexualtherapie genau das, was ich gesucht hatte.
Ergänzend kamen Fortbildungen in Bereichen wie Trauerarbeit, Onkologie, Trauma, weibliche Genitalverstümmelung, Trans*Menschen, Psychosomatik, Endometriose oder Vulvodynie hinzu. Diese Vielfalt erlaubt mir heute, komplexe Zusammenhänge zu erkennen und individuell zu begleiten.Für mich ist das mehr als ein Beruf – es ist meine Berufung.
2. Wie läuft eine Sitzung bei dir ab?
Der erste Schritt ist immer ein kostenfreies Kennenlerntelefonat (ca. 10 Minuten). Hier besprechen wir dein Anliegen und klären, ob eine Beckenbodenphysiotherapie, eine Sexualberatung oder eine Kombination beider Ansätze sinnvoll ist.
Eine Erstsitzung dauert in der Regel 1,5 bis 2 Stunden. Je nach Thema folgen Anamnese, funktionelle Diagnostik (z. B. Sonografie, Palpationen, Muskelfunktionstests), Pessar-Beratung, physiotherapeutische Übungsanleitungen oder eine Sexualanamnese mit passenden Interventionen.
Wissensvermittlung, Aufklärung und Wertungsfreiheit sind dabei die Basis. Ab der zweiten oder dritten Sitzung reichen meist 60 Minuten – manchmal genügt sogar ein einmaliger Termin. Jede Begleitung ist individuell.
3. Mit welchen Themen kommen Menschen zu dir?
Die Bandbreite ist groß: Schmerzen im Beckenraum oder beim Geschlechtsverkehr, neurologische Symptome, Blasen- oder Darmfunktionsstörungen, Vaginismus, Lustlosigkeit, Symptome nach Geburten oder Erektionsstörungen – um nur einige Beispiele zu nennen.
Häufig treten Schmerzsyndrome wie Vulvodynie oder Vestibulodynie auf, aber auch veränderte Sexualität nach traumatischen Erlebnissen oder psychosomatische Beschwerden. Ich arbeite mit Menschen aller Geschlechter – darunter auch Trans*Personen, Sterneneltern, Menschen mit Kinderwunsch oder chronischen bzw. palliativen Erkrankungen.
Die häufigsten Wünsche sind: schmerzfreie Sexualität, mehr Lust und Erregbarkeit, eine erfüllende Orgasmusfähigkeit oder ein besserer Umgang mit einer sich wandelnden Sexualität.
4. Wie unterscheidet sich deine Arbeit mit Einzelpersonen und Paaren?
Beckenbodenphysiotherapie findet in der Regel in Einzelsitzungen statt. Partner*innen dürfen aber gerne anwesend sein – etwa bei Ängsten oder wenn Unterstützung gewünscht wird.
Paararbeit erfolgt bei mir ausschließlich aus sexologischer Perspektive und erst, nachdem beide Partnerinnen jeweils zwei Einzelsitzungen hatten. Denn jeder bringt eine eigene Körper- und Sexualbiografie mit.
Klassische Paartherapie biete ich nicht an – sollte dies notwendig sein, empfehle ich spezialisierte Kolleg*innen.
5. Du verbindest körperliche Therapie mit Sexualberatung – wie funktioniert das in der Praxis?
Sehr gut, weil beides klar strukturiert ist und es rechtliche Vorgaben gibt. Physiotherapeutische Anwendungen erfolgen auf Basis eines ärztlichen Privatrezepts. Sie beinhalten neben Interventionen auch „Hands-on“-Anteile, also berührungsbasierte Arbeit. Diese finden bekleidet oder teilweise unbekleidet statt - selbstverständlich immer innerhalb klarer Grenzen und mit Einverständnis.
Sexualberatungen hingegen finden immer im bekleideten Zustand statt („Hands-off“) und basieren auf Gespräch, Wissen und theoretisch angeleiteten Körperübungen zur Selbstanwendung.
Beide Formen lassen sich individuell kombinieren – je nach Ziel und Bedarf.
6. Was kann jede*r für den eigenen Beckenboden tun?
Mein wichtigster Wunsch: Wertschätzt euren Beckenboden und euer Genital!
Viele denken beim Wort „Genital“ sofort an Sexualität – dabei gehören Blase, Darm und Beckenboden genauso dazu. Diese Organe leisten täglich enorm viel, und sie verdienen Aufmerksamkeit.
Nehmt euer Genital bewusst in euren Alltag mit – in Bewegung, Wahrnehmung und Sexualität. Glücklicherweise gehört auch die Sexualfunktion zum Genital. Hierzu zählen nicht die Klitoris oder die Penisschwellkörper allein, sondern komplexe Strukturen wie u.a. die Beckenbodenmuskulatur.
Bei Beschwerden im Bereich von Blase, Darm, Vulva, Vagina, Penis, Uterus oder Prostata empfehle ich spezialisierte Ärzt*innen (z. B. Gynäkologie, Urologie, Andrologie, Proktologie, Sexualmedizin).Physiotherapeutische Behandlungen können auf Rezept erfolgen und werden in vielen Fällen von den Krankenkassen übernommen.
Ich empfehle ausschließlich fachlich geprüfte Beckenbodenphysiotherapeut*innen, etwa nach dem Konzept PhysioPelvica® (AG GGUP) in Deutschland oder PelviSuisse in der Schweiz.
7. Wie reagieren Menschen nach der Zusammenarbeit mit dir?
Die Rückmeldungen sind sehr berührend. Meist begegnet mir eine große Dankbarkeit. Bislang fühlen sich Menschen schon in der ersten Sitzung bei mir geschützt, angenommen und verstanden. Häufig berichten sie danach bereits von ersten Symptomverbesserungen, mehr Sicherheit im Umgang mit ihrem Körper und einer neuen Offenheit für ihre Sexualität. Natürlich gibt es auch Grenzen – etwa bei schweren oder chronischen Erkrankungen wie z.B der MS. Hier kann ich nicht heilen, aber unterstützend und lindernd wirken. Und auch das kann Lebensqualität spürbar verbessern.
8. Du begleitest auch Menschen in der Trauer und in palliativen Lebensphasen – wie fließt das in deine Arbeit ein?
Ja, das ist ein wichtiger Teil meines Engagements. Ich begleite im Ehrenamt Menschen in palliativen Phasen, im Sterbeprozess und in der Trauer. Diese Arbeit hat mich tief geprägt.
Sie zeigt mir, dass Sexualität, Nähe und Körperlichkeit auch in diesen Lebensabschnitten Raum haben dürfen – und dürfen müssen. Ich halte dazu Vorträge, arbeite als Referentin und unterstütze Menschen, die durch Krankheit oder Verlust neue Wege mit ihrem Körper finden müssen.
Trauer kann viele Gesichter haben – der Verlust eines Menschen, eines Tieres oder einer Körperfunktion. Sexualität kann auch hier ein Teil des Heilungsprozesses sein.
9. Welche Werte prägen deine Arbeit besonders?
Neben Fachkompetenz, stetiger Weiterbildung, interdisziplinären und multiprofessionalen Fachaustausch und Selbstreflexion sind mir Empathie, Wertungsfreiheit, Menschenwürde, Vertrauen und Annahme besonders wichtig.Für mich gilt:
Mensch ist Mensch – unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung, Hautfarbe, Religion, Herkunft oder sozialem Hintergrund.
10. Was möchtest du den Leser*innen von TREAT YOUR SOUL mitgeben?
Wir haben alle nur dieses eine Leben – also lebt es! Es ist nie zu spät, damit zu beginnen.Dazu gehört auch das Recht auf sexuelle Gesundheit – unabhängig von Krankheit, Alter oder Einschränkungen.Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat dieses Recht längst definiert. Jetzt liegt es an uns, es zu leben.

Mehr zu Patricia und Ihrer Arbeit findest du unter: https://www.privatpraxis-liebeskind.de
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